7.3 Zur Datierung von Ilias und Odyssee

Als Entstehungszeit der Epen des Homer wird meist die zweite Hälfte des achten Jahrhunderts v.Chr. genannt, wobei die Odyssee etwa 20 Jahre später angesetzt wird als die Ilias (Latacz 1979, 4-8). Herodot glaubt, daß Homer etwa vierhundert Jahre vor ihm und gleichzeitig mit Hesiod gelebt habe (Hdt. II 53,2; vgl. Clem. Alex. strom. I 117,4). Ausgehend von einer Schaffenszeit des Herodot nach 454 v.Chr. (Lendle 1992, 38) hätte dieser die beiden Dichter damit ungefähr in die Mitte des neunten vorchristlichen Jahrhunderts datiert; Strabon hingegen nimmt an, daß Hesiod jünger sei als Homer (Strab. VII 3,6). Zur genaueren zeitlichen Einordnung des Homer liefert Strabon allerdings nur den Hinweis, daß einige Verfasser von Jahrbüchern den Einfall der Kimmerier kurz vor Homer bzw. zu seiner Zeit ansetzten (Strab. I 1,10; I 2,9; III 2,12) 452.

Kritik an den Versuchen, die Schaffenszeit des Homer nach der Zeit der Kimmerierstürme bestimmen zu wollen, blieb eher selten. Auch der Einwurf von E. Rohde, daß "die wunderlichste Bestimmung der Zeit des Homer ... an die Erzählung des Odysseus von dem Land und der Stadt der in sonnenlosem Dunkel an des tiefen Okeanos Ende wohnenden Kimmerier" geknüpft sei (Rohde 1881, 555), verhallte fast ohne Wirkung. Es wird auch in der modernen Forschung immer noch als zulässig angesehen, "aus Homers Versen von den Kimmeriern einen Ansatz für die Datierung des Dichters gewinnen zu wollen" (so Von der Mühll 1959, 145). G. Scheibner wollte einen terminus ante quem um 675 v.Chr. für die Fertigstellung der Odyssee daraus gewinnen, daß der Einfall der Kimmerier in das westliche Kleinasien dem Homer noch nicht bekannt gewesen sein könne, da er ihn schließlich nicht erwähne (Scheibner 1965, 93). Einen terminus post quem für die Niederschrift der Odyssee konstruierte dagegen P. Von der Mühll aus einer den Hafen der menschenfressenden Lästrygonen beschreibenden und die Quelle Artakia nennenden Stelle des Epos (Hom. Od. X 87-108), die er mit einem Gründungsdatum der milesischen Kolonie Kyzikos in den siebziger Jahren des siebten Jahrhunderts v.Chr. verband (Von der Mühll 1959, 150). Es schien ihm plausibel, daß für die Argonautika, auf die diese beiden Erwähnungen zurückgehen sollen (vgl. Apoll. Rhod. 949.957) 453, schon die definitive Festsetzung der Milesier in Kyzikos vorauszusetzen sei, weil es eine wirkliche Quelle dieses Namens bei Kyzikos nämlich gegeben habe (Von der Mühll 1959, 145). Akzeptiert man dieses Datum als terminus post quem für die Odyssee, so müßten Homer die Kimmerier bereits als die in Kleinasien einfallenden Reiterkrieger bekannt gewesen sein, ohne daß sich diese Kenntnis in seiner Schilderung der Kimmerier widerspiegelt. Homer hätte demnach in seinem Werk aus einem Volk der Wirklichkeit ein mythisches Volk in der Umgebung des Totenreiches gemacht 454.

Der Wert historischer Aussagen, der wesentlich von der Auswertung einer geographischen Angabe bestimmt wird, hängt aber entscheidend davon ab, wie zuverlässig eben diese geographische Angabe eingeordnet werden kann. Es ist bereits sehr früh darauf hingewiesen worden, daß die geographischen Angaben in den homerischen Epen nicht als gleichzeitig und gleichwertig angesehen werden dürfen (Herrmann 1926b, 359). Es gibt auch keine aus der Antike stammende Nachricht, die das Vorhandensein eines schriftlich fixierten und vollständigen Textes der homerischen Epen zu einem Zeitpunkt vor der Mitte des sechsten Jahrhunderts v.Chr. glaubwürdig bezeugt (Dihle 1970, 95). Schon in vorhellenistischer Zeit wußte man allerdings, daß in Athen im Laufe der sogenannten peisistratidischen Redaktion etwas mit den Texten des Homer geschehen ist (Merkelbach 1952, 23; Mühlestein 1990, 4 Anm. 1). Es stellt sich somit die Frage, ob einige Partien von Ilias und Odyssee nicht von Homer selbst stammen, sondern erst zu diesem Zeitpunkt hinzugedichtet oder zumindest verändert wurden.

Aus den stark orphischen Eigenarten einiger dieser für eine mögliche spätere Entstehung in Frage kommenden Abschnitte wurde geschlossen, daß deren Dichter bzw. Redakteur ein Angehöriger des unter Peisistratos sehr prominenten Geschlechts der Lykomiden war, die wegen ihres Orpheuskultes berühmt waren (Böhme 1970, 71; 1983, 26.27). Ebenso ist darauf aufmerksam gemacht worden, daß viele Passagen der Odyssee "hesiodischen Geist" atmen würden (Dihle 1970, 172). Der Nachweis, daß der letzte Redakteur der homerischen Texte ein Lykomide war, erlaubt es, diese Konkordanzen zwischen Hesiod und Homer auf gemeinsame orphische Traditionen von Hesiod und dem Redakteur der homerischen Epen zurückzuführen (Böhme 1991, 87). Nachdem die Beziehungen von orphischen und pythagoreischen Lehren bereits wiederholt angesprochen wurden, soll an dieser Stelle auf das besondere Verhältnis zwischen Pythagoras und Homer aufmerksam gemacht werden. Pythagoras schien bereits in seiner Jugend Kontakte zu Kreisen gehabt zu haben, die mit der Überlieferung der homerischen Werke in Verbindung gebracht werden können (Iambl. vita Pyth. 11). Die besondere Affinität, die zwischen dem Pythagoras und den Texten Homers besteht, läßt sich auch dadurch belegen, daß Pythagoras zahlreiche aus Ilias und Odyssee stammende Verse zitiert haben soll, einige in seiner "heiligen Rede" 455. Eventuell muß mit der Möglichkeit gerechnet werden, daß die erwähnten Homerstellen ursprünglich sogar Zitate des Pythagoras waren, die erst nach ihrem Einfließen in die überarbeiteten homerischen Epen dem Homer zugeschrieben wurden 456.

Die meisten der insbesondere den nomadisierenden Hirtenvölkern zugeschriebenen Sitten konnten als orphische bzw. pythagoreische Elemente identifiziert werden. Strabon bezeichnet den Vegetarismus bei den Geten ohnehin ausdrücklich als "pythagoreische Sitte" (Strab. VII 3,5) 457. Somit darf Homers Aufzählung der "Stutenmelker", "Milchesser" und "Abier" (Hom. Il. XIII 5.6) wohl als auf orphischen Traditionen beruhender Einschub bezeichnet werden. Dadurch, daß die Nekyia, die im Rahmen dieser Untersuchung durch ihre ausdrückliche namentliche Nennung der Kimmerier von besonderer Bedeutung ist, gleichfalls als später Einschub identifiziert werden kann (Herrmann 1926a, 178.182; Böhme 1983, 33-35; 1991, 68.253), muß der Quellenwert beider im Rahmen dieser Untersuchung intensiver behandelten Textstellen aus den homerischen Epen überdacht werden, was dann ebenso für die inhaltliche Bewertung der entsprechenden Aussagen gilt.


452 Aus den Epen selbst läßt sich die Zeit ihrer Entstehung kaum herauslesen. Die Helden des trojanischen Krieges leben zwar in der Bronzezeit, und der Dichter läßt sie deshalb mit bronzenen Waffen kämpfen, um die Altertümlichkeit des Erzählten zu unterstreichen. Aber dennoch nennt der sterbende Hektor den Sieger Achilleus einen Mann mit einem "eisernen Herz in der Brust" (Hom. Il. XXII 357).
453 Die Sage von den Argonauten war Homer offensichtlich bekannt (vgl. Il. VII 467-469; Od. XII 69-72).
454 Diese Vermutung sprach bereits Strabon aus. Der Ionier Homer habe sich an den Kimmeriern für die von ihnen an den Küsten Kleinasiens verursachten Zerstörungen gerächt, indem er sie in seiner Dichtung ins tiefe Dunkel in der Nähe der Unterwelt versetzte (Strab. III 2,12).
455 Folgende Zitate des Pythagoras aus Werken Homers sind sicher überliefert: Hom. Od. I 28 (Iambl. vita Pyth. 39), Hom. Od. I 15; V 135.136; VII 255-258 (Iambl. vita Pyth. 57), Hom. Il. XVII 51-60 (Iambl. vita Pyth. 63), Hom. Od. XIV 145.146 (Iambl. vita Pyth. 255), Hom. Od. III 156; III 469; IV 532; XIV 497; XVIII 69 (Iambl. vita Pyth. 260). Dieses Rezitieren von Versen des Homer und des Hesiod soll religiösen Charakter gehabt haben (Iambl. vita Pyth. 111.164).
456 Pythagoras kann aufgrund zahlreicher Zeugnisse sicher in das sechste Jahrhundert v.Chr. datiert werden (Diog. Laert. VIII 47; Porphyr. vit. Pyth. 9; Iambl. vita Pyth. 11.35). Damit fällt seine Lebenszeit auch in den Zeitraum, in dem die Redaktion der homerischen Epen stattgefunden haben soll.
457 In dieser Meinung des Strabon spiegelt sich eventuell die Mitteilung des Herodot wider, daß der von den Geten verehrte Gott Salmoxis eigentlich ein ehemaliger Sklave des Pythagoras gewesen sei, der nach seiner Rückkehr nach Thrakien als Religionsstifter tätig wurde (Hdt. IV 95).


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